04.08.2022
Tugendweg in Lingen
Wegweiser für unser Leben
Tugend – fast ein wenig altmodisch klingt der Begriff. Dabei bleibt die Botschaft von Liebe und Gerechtigkeit, Hoffnung und Klugheit aktuell. Das zeigt ein Spaziergang über den „Tugendweg“ in Lingen mit sieben Kunstwerken.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt freundlich die Dame an der Ampel. Sie sieht den suchenden Blick und die Karte in meiner Hand. Und kombiniert blitzschnell: „Wollen Sie zum Tugendweg? Da vorne müssen Sie lang.“ Ein paar Meter begleitet sie mich noch bis zum Stadtpark. Da steht die Skulptur des Thuiner Künstlers Ulrich Schürhaus: neun Betonstelen, jede über zwei Meter hoch. Eine der Säulen richtet sich kerzengerade auf und stellt sich den anderen acht entgegen.Dass damit die Tugend der „Tapferkeit“ gemeint ist, wird auch ohne Erklärung klar. Da reicht die kleine Infotafel. Schürhaus meint damit Zivilcourage in Wort und Tat, Haltung und sich nicht verbiegen zu lassen – Eigenschaften, die heute mehr denn je vonnöten sind. Genau wie Klugheit und Mäßigung, Hoffnung und Gerechtigkeit, Liebe und Glaube.
Zu allen diesen Tugenden gibt es jetzt sieben großformatige Skulpturen in Lingen: gestaltet von Künstlerinnen und Künstlern aus der Region, zu sehen auf einem gut zwei Kilometer langen Rundweg vorbei an Kirche, Krankenhaus und Kanal in der Innenstadt (siehe auch „Zur Sache“).
Die Idee dazu stammt von Holger Berentzen. Mehr als fünf Jahre lang hat sich der Dekanatsreferent für das Projekt stark gemacht. Nun zu erleben, was aus den ersten Skizzen, Modellen und zahllosen Gesprächen geworden ist, macht nicht nur ihm Freude. Schon kurz nach der Eröffnung im Frühsommer mehren sich bei ihm die Anfragen nach Führungen. Manche Schule überlegt bereits, den „Tugendweg“ für Projektwochen fest ins Unterrichtsprogramm aufzunehmen.
Das bietet sich tatsächlich an. Denn für Berentzen kommen die genannten Tugenden nie aus der Mode – können vielmehr Wegweiser und -begleiter für unser Leben sein. Und für das Gemeinwesen an sich, denn das fußt auf unserem Handeln und unseren Haltungen. Gerade in diesen Zeiten, in denen Krisen überhand-zunehmen scheinen, könnten Tugenden wie ein Leuchtturm die Richtung anzeigen. Aber sie müssen eingeübt werden, meint Berentzen. „Und das geht nicht nebenbei, sondern verlangt, dass man sich ihrer bewusst macht.“
Eine Besucherin balanciert auf den Buchstaben
Wie zum Beispiel auf dem neuen Skulpturenweg. Manche der Werke verlangen dabei einen Moment mehr der Betrachtung – wie das in den Boden gepflasterte, abstrakte Mosaik samt Brunnen von Peter Lütje vor der St.-Bonifatius-Kirche zum Thema „Glaube“. Aber der Standort stellt eine gute Verbindung her und erlaubt zudem ein stilles Gebet im Gotteshaus.

Einfacher erschließen sich andere Stationen. Wie der von Ilse Kampen mit vier Bänken gestaltete Platz vor dem örtlichen Medienhaus. Inmitten blühenden Sonnenhuts und Johanneskrauts können sich Gäste setzen und über „Klugheit“ sprechen. 30 eingravierte Begriffe von Toleranz bis Mut mögen Impulse für eine Diskussion setzen. Nur ein paar Schritte weiter hinein in die Fußgängerzone geht es zwischen Amtsgericht und Emslandmuseum um die „Gerechtigkeit“. Eva-Maria Grüneberg hat um eine Linde gut 50 Betonbuchstaben zu einer Wortspirale arrangiert: mit Begriffen wie „Haltung“ oder auf englisch „Attitude“. Eine Besucherin balanciert gerade auf den Lettern – auf der Suche nach der richtigen Position. Wie so oft im Leben.
Die meisten Stationen machen es leicht, solche Gedanken und Impulse mitzunehmen. Vor dem Krankenhaus erzählt Julia Siegmund mit ihrer gen Himmel schwingenden Metalltreppe von der „Hoffnung“, und vor dem Kreishaus mahnt Ansgar Silies in seiner Spiegelinstallation mehr „Mäßigung“ an: Einfach mal in den Trichter hineingehen und sich überraschen lassen.
An anderen Stationen tut der Spaziergang einfach nur gut. Am Kanal nehme ich einige Minuten Platz auf einer Holzbank, beobachte eine Entenfamilie am Ufer und den Schiffsverkehr. Und schaue auf die Skulptur von Margriet Krijtenburg. Zwei Metallsäulen stehen wie ein Paar nebeneinander. Das Graffito darauf stammt von einem unbekannten Sprayer, passt aber: „One Love.“ Mir fällt dazu der Satz aus dem Korintherbrief ein: „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe. Doch am größten unter ihnen ist die Liebe.
Petra Diek-Münchow
Zur Sache
Der Anstoß zum „Tugendweg“ kam von Holger Berentzen. Der Dekanatsreferent hat das Projekt mit der Direktorin der Kunsthalle Lingen, Meike Behm, und mit Unterstützung der Stadt Lingen entwickelt.
Der „Tugendweg“ ist zweieinhalb Kilometer lang und führt von der Innenstadt bis an den Dortmund-Ems-Kanal und zurück in die Fußgängerzone.
Wer alle sieben Skulpturen auf dem Rundweg sehen möchte, sollte zu Fuß eineinhalb bis zwei Stunden Zeit einplanen. An jeder Station gibt es eine Infotafel mit einem QR-Code.
Bald soll eine Begleitbroschüre und eine Neuauflage des Stadtführers dazu herauskommen. Schon jetzt findet man Texte und eine Karte auf der Internetseite des Dekanates
Führungen sind möglich. Infos unter Telefon 05 91/96 49 72 21 oder per E-Mail