29.03.2017
Um den Holocaust nicht zu vergessen, erzählen jüngere Menschen nun die Geschichte der Überlebenden
Erinnerung bewahren
Das Gedenken an den Holocaust wachzuhalten, ist für viele Zeitzeugen eine Lebensaufgabe – doch sie werden älter. Damit die Erinnerung nicht verloren geht, übernehmen nun jüngere Menschen diese Aufgabe als Zweitzeugen.
Noch eine Nussecke? Ja, bitte. Als Katharina Spirawski (29) das erste Mal bei Erna de Vries (93) zu Besuch ist, hat die alte Dame den Wohnzimmertisch fein gedeckt. Es gibt Kaffee und Kuchen, genauer: Nussecken. Doch das Gesprächsthema will so gar nicht in die gemütliche Wohnzimmeratmosphäre passen: Erna de Vries, Holocaustüberlebende, die seit Jahren in Schulklassen über ihr Schicksal berichtet, soll Katharina Spirawski an diesem Tag ihre Geschichte erzählen. Ganz genau und in allen Einzelheiten. Spirawski muss sich vieles merken, denn als Zweitzeugin soll sie von Erna de Vries’ Schicksal berichten.
Entlastung für die Holocaustüberlebenden
Spirawski ist Mitglied im Verein Heimatsucher, der aus einer Initiative entstand, die es sich zum Ziel setzte, die Lebensläufe von Holocaustüberlebenden kennenzulernen. Die Vereinsmitglieder können vor Schulklassen und Gruppen aus dem Leben der Betroffenen berichten – wenn die alten Menschen selbst es nicht mehr können oder wollen oder wenn es einfach zu viele Termineanfragen gibt wie bei Erna de Vries. So erzählt Katharina Spirawski nun von Erna de Vries, über ihre Jugend und ihre Zeit in Auschwitz. Zeitgleich berichtet auch Erna de Vries noch von ihrem Leben, etwa viermal im Jahr. Doch die 93-Jährige sollte kürzertreten, das finden zumindest ihre Enkelinnen.
Katharina Spirawski hat schon viele Verpflichtungen übernommen. Sie selbst ist eine von denen, die Erna de Vries bei einem Auftritt erlebt haben. Und sie war sehr beeindruckt. So beeindruckt, dass die evangelische Theologin aktiv werden wollte. Daher recherchierte sie und wurde auf den Verein Heimatsucher aufmerksam, für den sie sich seither engagiert.
Für den Verein hat Spirawski weitere Holocaustüberlebende besucht, manche in Israel, andere in Deutschland. Die Vereinsmitglieder lassen sich von den Überlebenden ihre Lebensgeschichte erzählen, damit die Erinnerung am Leben bleibt.
Stunden-, manchmal gar tagelang, sitzen Überlebende und deren Zuhörer zusammen, reden, lachen, weinen. Das sei wie ein Kaffeeklatsch gewesen, meint Spirawski. Manche Erinnerung rührt zu Tränen, nicht nur die Zeit- sondern auch deren Zweitzeugen, die sich dann von den Zeitzeugen trösten lassen. „Ich habe genug für uns beide geweint!“, sagt die Holocaustüberlebende Frieda Kliger einmal zu Katharina Spirawski.
Als Erna de Vries, die mit ihrer Mutter ins KZ Auschwitz verlegt werden wollte, von ihrer Mutter Abschied nehmen musste, tat sie es in dem Wissen, dass sie einander nie wiedersehen würden. Als „Mischling ersten Grades“ konnte de Vries überleben. Die beiden Frauen lagen einander weinend in den Armen und die junge Erna bekam von ihrer Mutter den Auftrag, zu überleben und davon zu erzählen, was mit ihr und den anderen jüdischen Bürgern geschehen sei. Diesen Auftrag nimmt de Vries sich zu Herzen, bis heute ist es ihre Lebensaufgabe. Schon mehr als zehnmal hat Spirawski diese Geschichte gehört, und jedesmal ist sie berührt. Sie bewegt die Geschichte der 93-Jährigen und die Hartnäckigkeit, mit der sie von ihr berichtet.
Dabei beginnt Spirawski immer mit der Kindheit und Jugend, so wie de Vries es selbst auch macht, damit die jungen Zuhörer sich schnell mit de Vries identifizieren können. Und die Kinder fragen ganz unbefangen, wollen wissen, was denn eine „Gasdusche“ sei, ungeachtet, dass Erwachsene sich oft nicht trauen, eine solche Frage zu stellen. Schnell gehen die Kinder, die jüngsten gerade mal zehn Jahre alt, auch auf politische Themen ein, wollen wissen, warum auch heute rechte Parteien wieder stärker werden.
Selten nur kommt es vor, dass ein Kind aufsteht und den Raum verlassen will, weil es nichts vom Leiden der Juden hören wolle. Das, so Spirawski, seien zuweilen muslimische Kinder und einige seien gerade erst selbst vor Krieg und Gewalt geflohen. Sie versuche, den Kindern klarzumachen, dass sich die Juden damals von Gewalt bedroht waren, ebenso wie die Flüchtlinge heute.
Briefe für die Holocaustüberlebenden
Am Ende eines Zweitzeugenauftritts werden die Kinder schließlich aufgefordert, den Holcaustüberlebenden Briefe zu schreiben. Diese Briefe werden den Zeitzeugen zugestellt und gerne von ihnen gelesen.
Die Gespräche der Zeitzeugen mit den Zweitzeugen werden mitgeschnitten, damit nichts verloren geht und die Zweitzeugen alle eventuell aufkommenden Fragen beantworten können. Dazu stützen sie sich auch auf bereits existierende Dokumentationen. Aktuell nimmt Spirawski, die derzeit an ihrer Doktorarbeit schreibt, sich die Zeit für solche Schulbesuche, denn diese Arbeit ist ehrenamtlich. Gerne würde sie Vollzeit für den Verein arbeiten, um sich ganz dem Wachhalten der Erinnerung zu widmen. Sie tut es gerne, denn man könne Erna de Vries alles fragen, berichtet Spirawski. „Sie ist eine liebe alte Frau, die sich um einen sorgt und Berührendes zu erzählen hat. Ein bewundernswerter Mensch!“, schwärmt Katharina Spirawski von Erna de Vries.
Ein Porträt über Erna de Vries finden Sie hier
Nadine Vogelsberg