04.08.2015
Motorikexperte für Schulfach „Schreibtechnik"
Probleme beim Schreibenlernen?
Viele Schüler haben Probleme mit der Handschrift und können über einen längeren Zeitraum am Stück nicht ohne Schmerz schreiben. Der Schreibmotorikexperte Christian Marquardt fordert im Interview neue Methoden für den Schreibunterricht.
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Handschrift ist wichtig, denn was man aufschreibt, merkt man sich besser. Foto: imago |
In einer Umfrage des Deutschen Lehrerverbandes und Ihres Instituts beklagen 79 Prozent der Lehrer an weiterführenden Schulen, dass die Schüler nicht mehr flüssig und leserlich schreiben. Haben Sie die Ergebnisse überrascht?
In der Tat! Dass es Schwierigkeiten beim Handschriftenerwerb gibt, ist bekannt. Doch einen so hohen Prozentsatz hätte ich nicht erwartet: 51 Prozent der Jungen und 31 Prozent der Mädchen haben Probleme. Nur höchstens 38 Prozent können 30 Minuten oder länger beschwerdefrei schreiben. Darüber wird zwar viel diskutiert, aber die eigentlichen Ursachen nimmt keiner in den Blick.
Welche Ursachen meinen Sie?
Es heißt immer: Kinder schreiben heute weniger, weil die Digitalisierung fortschreitet und ihre feinmotorischen Voraussetzungen schlecht sind. Das stimmt auch alles, denn die Lebenswelt von Kindern hat sich in den vergangenen Jahren noch weiter verändert. Anstatt draußen zu spielen oder drinnen zu malen, verbringen sie mehr Zeit vor Bildschirmen oder mit digitalen Spielen. Dieser Realität müssen wir uns stellen und es ihnen leichter machen durch neue Methoden. An alten Zöpfen festzuhalten, weil es früher funktioniert hat, finde ich nicht richtig. Ändert sich nichts, bleiben zu viele Kinder auf der Strecke.
Was läuft falsch?
Grundschüler müssen in der Regel dreimal schreiben lernen. Erst Druckbuchstaben, dann Schreibschrift und ihre eigene Handschrift. Doch sie haben dafür weder so viel Zeit und Übung wie früher noch in vielen Fällen die nötige Fingerfertigkeit. Als Erstklässler beginnen sie mit Druckschrift. Im zweiten Schuljahr müssen sie wieder umdenken. Dann wird in den meisten Bundesländern eine Schreibschrift gelehrt – die Lateinische Ausgangsschrift, die Schulausgangsschrift oder die Vereinfachte Ausgangsschrift. Am Ende der zweiten Klasse sollen Kinder allein schreiben. Doch die gelernten Schreibschriften sind zu kompliziert, um schnell und flüssig schreiben zu können. Vor allem, weil es zum Erwerb der individuellen Handschrift keine schulische Betreuung gibt. Viele Kinder schreiben in der Folge einen Mischmasch aus Druck- und Ausgangsschrift. Müssen sie schnell schreiben, wird es häufig unleserlich.
Wäre das Fach Schönschrift eine Lösung?
Das würde nichts ändern. Es ist ein Missverständnis zu glauben, Schönschreiben und Schreiben sei das Gleiche. Schönschreiben ist langsames Malen, Schreiben fünf- bis zehnmal schneller. Das Buchstabenmalen wird mit den Augen kontrolliert, Schreiben läuft als motorischer Prozess ab. Genau das ist die Krux: Diese Bewegungsautomation findet nicht mehr richtig statt.
Wie kann es besser gehen?
Die Schreibmotorik müsste eher gefördert werden. Also früher schneller geschrieben und schon dabei geholfen werden, eine effiziente Schrift zu lernen. Vor allem die Einführung des Fachs „Schreibtechnik“ in der dritten und vierten Klasse würde helfen.
Ist dafür Platz im Unterricht?
Dazu gibt es meiner Ansicht nach keine Alternative, zumal schon heute die Hälfte der Jungen nicht mehr lesbar schreibt. Einige Teile des Schreibunterrichts, vor allem die viel zu lange Konzentration auf die korrekte Form der Buchstaben zu Anfang, ließen sich deutlich reduzieren.
Wie soll das praktisch laufen im Fach Schreibtechnik?
Es würde darum gehen, durch kreatives Motoriktraining Schreibrhythmus und Schreibtempo zu verbessern. Angefangen bei der Stifthaltung, über Schwungübungen bis zum Einüben von Buchstabenkombinationen, die sich flüssiger schreiben lassen. Ziel muss sein, die Buchstaben in Bewegung zu überführen – mal großflächig, dann kleinräumig. Die kann man sogar „rennen“. Indem auf dem Boden Buchstaben ausgelegt werden, um sie im Parcours zu durchlaufen.
Was können Eltern tun?
Ihre Kinder ermuntern, viel mit den Händen zu machen, und ihr Interesse am Schreiben wecken. Es selbst vorleben und sie oft zum Gebrauch von Stiften und zum Basteln anregen. Das geht auch im Alltag, überall dort, wo die Finger zu benutzen sind – helfen, mit Klammern Wäsche aufzuhängen oder als Schreibanfänger den Einkaufszettel zu schreiben. Damit können sie eine gute Grundlage schaffen.
Interview: Heike Sieg-Hövelmann
Das vollständige Interview lesen Sie im aktuellen Kirchenboten