06.09.2016

Bischof Bode gibt seine Einschätzung wieder

„Aufatmen“ geht weiter

Ein Satzzeichen hat die Versammlung der diözesanen Räte in Haus Ohrbeck bestimmt. Regelmäßig war vom Doppelpunkt die Rede. Übersetzt heißt das: Das „Jahr des Aufatmens“, das seit zwölf Monaten im Bistum läuft, muss weitergehen, die „Kultur des Aufatmens“ weiter gepflegt werden. Bischof Bode benannte sieben Punkte.

Morgenlob bei der Abschlussveranstaltung zum „Jahr des Aufatmens“. Foto: Petersen

Zwölf Monate lang ging es im „Jahr des Aufatmens“ darum, wie einzelne Gläubige, Gemeinden und Institutionen Zeit finden, um sich neu zu besinnen auf das, was im Leben wichtig ist. In einer Abschlussveranstaltung in Haus Ohrbeck wurden die Erfahrungen gebündelt. Die wesentliche Erkenntnis: Der Gedanke des Aufatmens soll auch in Zukunft im Bistum eine gewichtige Rolle spielen. Durch ansprechende Formen von Spiritualität und Zeiten für persönliche Gottsuche soll auch in Zukunft eine „Kultur des Aufatmens“ geschaffen werden. Also kein Thema, das jetzt abgehakt ist, sondern das zu einer neuen Haltung führen kann.

Der Prozess sei offen, hatte Daniela Engelhard ganz zu Beginn gesagt, als die Idee vom „Jahr des Aufatmens“ ins Bistum getragen wurde. Trotzdem warteten am Sonntagmorgen viele Delegierte auf die Worte des Bischofs, der bewertete, was ihm im Laufe der zwölf Monate aufgefallen ist – und der in seine Beurteilung einbezog, was andere erlebt hatten. Sieben Punkte zählte er auf, um zu seinem Ergebnis zu kommen.

Was habe ich im Jahr des ZUG erfahren?

Zunächst habe ich erfahren, wie viele Menschen in unserem Bistum und weit darüber hinaus sich von dem Impuls haben ansprechen lassen, nach Möglichkeiten des Aufatmens zu suchen – ob fasziniert oder skeptisch, ob theoretisch oder praktisch, ob als Einzelne oder als Gemeinden und Einrichtungen. Ich habe erfahren, dass die Frage nach der Unterbrechung, der Unterscheidung, des Innehaltens und Aufatmens von (über)lebensnotwendiger Bedeutung ist für de Zukunft jeder Person, der Kirche und der Welt. Wer nur ein wenig wach ist für die Zeichen der Zeit, kann dieses Ringen um Entschleunigung und bedeutsame Pausen, um neue Einstellungen zur Wirklichkeit und zur Arbeit nicht überhören und übersehen. Ich habe erfahren, wie schwierig und komplex diese Fragestellung ist in einer von der Ökonomisierung so durchdrungenen Welt. Es gibt keine schnellen Lösungen und Erfolgserlebnisse.

Darum verstehe ich auch die Skepsis bis hin zur Ablehnung mancher, die an eine grundsätzliche Veränderung unserer Lebenssituation nicht glauben können. Und doch bleibt die gemeinsame Erfahrung: So wie bisher kann es nicht weitergehen, welche Antwort auch immer darauf gesucht und gefunden wird.

Ich selbst habe erfahren, wir schwer es ist, den Terminkalender, die Begegnungen und persönlichen Arbeiten so zu gestalten, dass Orte und Momente des Aufatmens bleiben oder dass ich eine neue Einstellung zu den Dingen finde, die jeden Tag einfach anfallen.

Was hat mich berührt?

Zu Herzen gegangen sind mir einige Ereignisse und Begegnungen, die für mich eine eigene Tragfähigkeit für die Zukunft haben. Die sehr gelungene Eröffnung des ZUG im Ludwig-Windthorst-Haus gehört dazu.

Dann große musikalische Erfahrungen wie etwa bei meinen Fastenmeditationen und auch die „Nacht für Gott“ im Dom. Weiter die dreistündige Vigil mit der Lesung des Exodusbuchs und die stärkere Verbreitung der Anbetungszeiten in unserem Bistum. Das alles sollten wir unbedingt weiterführen.

Die manchmal augenzwinkernd geäußerte Frage, ob der Bischof denn wohl für sich selbst auch einen neuen Weg des Innehaltens finde, ist mir zuweilen nahegekommen. Berührt hat mich, dass wichtige Gruppen ihre Zusammenkünfte an anderen Orten und in anderen Formen gestaltet haben, zum Beispiel als Wallfahrt, und dabei die Heilige Schrift als Grundlage wählten.

Und über allem der Ideenreichtum von Gemeinden, Einrichtungen, Verbänden und Einzelnen, um das Aufatmen zum roten Faden dieses Jahres zu machen, auch als ganz konkrete Form der Barmherzigkeit, die Papst Franziskus für diese Zeit in den Mittelpunkt gerückt hat.

Was hat mich persönlich gefreut?

Besonders freue ich mich darüber, dass mir persönlich einige Veränderungen gelungen sind, die mehr und mehr zu Haltungen werden: die bewusstere Gestaltung des Montags, des ,freieren‘ Tages für Seelsorger, vor allem durch mehr kreative Arbeit, durch wirkliche Pausen, durch die abendliche Anbetung im Dom, die ich zusammen mit den Weihbischöfen über das Jahr des ZUGs hinaus weiterführen möchte.

Die Zeiten des Rückzugs in Kloster Nette habe ich erweitert und mein Lese-, Bewegungs- und Kulturprogramm verbessert. Mein fester geistlicher Tagesrhythmus mit Eucharistie, Stundengebet und geistlichem Rückblick auf den Tag und ebenso die regelmäßigen Treffen mit Familien und Freunden sind mir noch mehr zur Hilfe geworden.

Die Verpflichtungen außerhalb des Bistums habe ich in den vergangenen Monaten drastisch reduziert und die Abfolge regelmäßiger Treffen weitmaschiger gestrickt.

Ich freue mich über diese Schritte, die auch anderen in meiner Umgebung gut tun können. Und ich bin sehr dankbar, dass wir im Bistum über diese je eigenen Schritte persönlicher ins Gespräch gekommen sind und so eine vertrauensvolle Art des Miteinanders aller Dienste besonders in den Gemeinden gefördert haben. Auch die Bemühungen in den karitativen Einrichtungen haben mich beeindruckt bis hin zu einem Bürgschaftsfonds, aus dem in existenziell bedrohlichen Schuldenfällen geholfen werden kann.

Was fällt mir schwer oder macht mir gar Sorge?

Bei all den guten Erfahrungen fällt es mir immer noch schwer, nachhaltig den gelegentlichen Raubbau an Körper und Seele zu verhindern und gelassener, identischer und authentischer zu werden. Ebenso macht es mir Sorge, dass wir in all den Einrichtungen und Berufen, in denen sich unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter täglich bis zur Atemlosigkeit für andere Menschen hingeben, nicht aus dem Druck der Ökonomisierung und der Beschleunigung herausfinden. Es macht mir Sorge, dass wir als Kirche in viele gesetzliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen gezwängt sind, die wir nicht einfach kaschieren können und dürfen. Hier bekommt unser Thema eine sehr politische Bedeutung. Unsere Anwaltschaft ist gefragt.

Es macht mir Sorge, dass die karitativen und pastoralen Herausforderungen uns so wenige Spielräume lassen und wir auf diesen Gebieten nur schwer zu neuen Einstellungen und Haltungen finden, zumal das Denken vom Ganzen her vielen zunehmend schwerer fällt im Wettstreit der Einzelinteressen.

All das hindert die meisten nicht, dennoch den Bischof und das Bistum zu ermutigen, an dem Thema des ZUG dran zu bleiben, weil sie spüren: Das ist kein Jahresthema, sondern ein Lebensthema; da kann es keinen Punkt geben als Schlussmarkierung, sondern nur einen Doppelpunkt hin zur Beantwortung der Frage: Was können und sollten wir mitnehmen für den weiteren Weg?

Was nehmen wir mit?

Ich bitte alle, persönlich, in den Gemeinden und Einrichtungen Bilanz zu ziehen, welche Erfahrungen es wert sind, beibehalten und vertieft zu werden, und zwar bis in sehr praktische Bereiche hinein, die auch gute Gewohnheiten werden können. Dann werden Handlungen mehr zu Haltungen und Maßnahmen mehr zu einem neuen Maßnehmen an der Heiligen Schrift, das heißt an Gott und seinem Sohn Jesus Christus. Und die Oberflächlichkeit, so in den Tag hineinzuleben, wird zur sensiblen Unterscheidung, was zu tun und zu lassen ist. Nehmen wir den Grundsatz „Weniger ist mehr“ mit in liturgische Feiern, in die Weise der Verkündigung, ja sogar in die karitative Zuwendung, wo wenige, aber intensive Zeitgeschenke an andere oft besser sind als eine Fülle von kurzen und oberflächlichen.

Mitnehmen müssen wir auch eine neue Bereitschaft zu einer Kirche der Beteiligung auf allen Ebenen, denn nur das Teilen von Begabungen und Möglichkeiten, von Macht und Verantwortung entlastet und fördert ein gemeinsames, gelasseneres Zugehen auf die weiterhin großen Herausforderungen.

Nehmen wir alle wirklich existenziell einzuübenden Formen der geistlichen Unterscheidung mit für Einzelne und für Gruppen, die die geistlichen Meister (besonders Ignatius von Loyola) uns zeigen. Und lassen wir nicht wieder ab von den Zeiten der Anbetung und der kurzen abendlichen Reflexion („Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“), die unseren Alltag heiligen. Ja, wir sollten sie noch vermehren.

Was sollten wir verändern?

So Gott will, habe ich als Bischof einen noch knapp zehn Jahre währenden gemeinsamen Weg mit dem Bistum vor mir. Es ist mein großer Wunsch, dass wir diese Jahre bewusster aus den positiven Erfahrungen dieses Jahres des Aufatmens gestalten. Schon deshalb müssen wir dran bleiben an den Impulsen und dürfen die Schwungkraft der Auseinandersetzung mit solch lebenswichtigen Fragen nicht vergeuden.

Viele wünschen sich eine veränderte Arbeitskultur, in der „Weniger ist mehr“ zu einer tiefer begründeten Freude an der Arbeit und einer echten Annahme der Herausforderungen führt. Wie können wir die Zwänge, in denen wir stecken, besser entlarven und umwandeln in neue, vertrauende und hoffnungsvolle Energie? Wie können wir in der sich ausweitenden Sitzungskultur zu einem zielführenden Miteinander kommen, das mit den Zeitressourcen der Beteiligten, vor allem der Ehrenamtlichen, achtsam umgeht? Wie kann sich die geistliche Vertiefung so gestalten, dass sie nicht nur ein ,geistliches Element‘ vor oder nach unseren Begegnungen ist? Die Regel 2:1 (zwei Dinge lassen, eine Sache neu angehen) sollte uns immer wieder dazu animieren, in Dienstgesprächen und Jahresplanungen das Lassen zu überdenken, was allerdings keineswegs zur leichtfertigen Entledigung von unliebsamen Aufgaben führen darf. In den Reflexionen werden wir immer wieder nach Prioritäten und Posterioritäten suchen müssen. Dazu braucht es konsequentes Nach-Denken in jährlichen Klausuren auf allen Ebenen.

Die gute Erfahrung mit der biblischen Grundlegung unseres ZUG aus dem Buch Exodus sollten wir festhalten, damit die Heilige Schrift, das lebendige Wort Gottes, immer mehr zur Richtschnur unseres Tuns und Lassens wird. – Vielleicht können die weiteren Bücher Mose uns ja in den nächsten Jahren dabei begleiten. – „Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade“ (Ps 119,105). Dann wird Kirche wirklich „Geschöpf“ und „Braut“ des Wortes, wie die Kirchenväter sagen.

Exerzitien im Alltag, Anbetung, die Gestaltung von Abenden, Nächten und Tagen für Gott, die bewusste kontemplative Gestaltung der geprägten Zeiten (Advent, Fastenzeit, Pfingstnovene, Gebetsschule… ) unter dem Prinzip „Weniger ist mehr“ oder „Mehr hören als reden“, all das kann unseren ZUG nachhaltig machen.

Viele leisere Stimmen unseres ZUG wünschen sich dauerhaft mehr kontemplative, meditative Akzente im Kirchlichen, keine „Wellness-Aktionen“, sondern Besinnung auf das Wesentliche. Es braucht zweckfreie Angebote und nicht nur leistungsorientierte Aktionen, auch im Bildungsbereich. Gerade in den zum Handeln herausfordernden Krisenzeiten, die wir erleben, brauchen wir eine tiefe Gründung im vertrauenden Glauben, in unverschämter Hoffnung und in nie aufgebender Liebe; wir brauchen eine Kultur des Aufatmens, der Achtsamkeit und der Nachhaltigkeit.

Noch intensiver als bisher müssen wir auf allen Ebenen die Frage nach unserem Lebensstil stellen – im persönlichen Bereich und in einer Konsumgesellschaft, die weithin auf Kosten anderer lebt. Die enge Verknüpfung von Ökonomie, Ökologie und Ökumene (alle Menschen guten Willens) allein lässt uns das gemeinsame Haus der Schöpfung zukunftsfähig erhalten.

Die nächsten Jahre werden deutliche Veränderungen in der Pastoral mit sich bringen, wobei die gute Balance von Einheit und Vielfalt, von Synodalität und Autorität uns Zuversicht für die Zukunft schenken. Unter dem Leitwert „Kirche der Beteiligung“ beschreiten wir bereits neue Wege, etwa mit der Beauftragung Ehrenamtlicher Gemeindeteams. Das Miteinander der verschiedenen Dienste von Getauften, Beauftragten, Gesendeten und Geweihten gilt es weiter zu entwickeln und zu vertiefen.

Zu den Schlüsselthemen gehört die Frage, wie wir in Zukunft Leitung in den Pfarreien und Gemeinden gestalten. Auch das hat mit dem Thema „Aufatmen“ zu tun. Nicht einer allein kann und muss Leitung in einsamer Verantwortung wahrnehmen. Deshalb bewährt sich seit Jahren, dass immer mehr Leitung im Team wahrgenommen wird: in den Pastoralteams, in der Kooperation mit den Pfarrgemeinderäten und Kirchenvorständen... Dabei werden wir darauf bedacht sein, achtsam mit der Zeit und den Kräften der Ehrenamtlichen umzugehen. So kommen die verschiedenen Erfahrungen und Gaben auf bereichernde Weise zusammen.

Transparenz und eine gute Kommunikation der weiteren Überlegungen, Entwicklungen und Entscheidungen sind ebenfalls sehr wichtig.

Was lässt mich vertrauen und hoffen?

Es ist zunächst die große Erfahrung des Miteinanders in den vergangenen 20 Jahren in unserem Bistum, die mich menschlich zutiefst ermutigt, dass wir zu einem ,anderen Weg‘ fähig sind und den Anforderungen der kommenden Jahre gewachsen sind.

Darüber hinaus bleibt die Sehnsucht der Menschen nach einem anderen, einem volleren, mehr-wertigen Leben, das nach unserem Glauben erst seine Ruhe findet in Gott (Augustinus). Ich vertraue darauf, dass diese Sehnsucht eine große Motivationskraft hat und dass Gott weiterhin nicht aufhört, uns „mit den Seilen der Liebe“ an sich zu ziehen (vgl. Hos 11,4), dass er seine Suche nach uns niemals aufgibt, dass seine innige Frage: „Mensch, wo bist du?“ (Gen 3,9) nicht verstummt – in welchen Formen von Gemeinschaft und Kirche auch immer. Und ich hoffe weiter auf die Anziehungskraft Jesu Christi, der die Menschen bei sich aufatmen lassen will: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen“ (Mt 11,28).

Dann wird uns der Atem nicht ausgehen, wo wir dem Atem Gottes, den Heiligen Geist, Raum geben, ihm, der in uns betet in „unaussprechlichem Seufzen“, wo wir nicht mehr recht ein noch aus wissen (vgl. Röm 8,26).

Liebe Schwestern und Brüder, gehen wir trotz der noch vielen ungelösten Fragen und der noch unvollkommenen Atemübungen des Lebens mit Gott voller Zuversicht die nächsten Schritte unseres Bistums. Ergreifen wir die Hoffnung, die dieses Zukunftsgespräch in vielen guten Erfahrungen gestärkt hat.

Bei der bekannten Telgter Wallfahrt (nun schon zum 164. Mal zu Fuß von Osnabrück nach Telgte und wieder zurück mit rund 10 000 Teilnehmern) gibt es einen ,Schrittmacher‘, eine Person, die darauf achtet, dass die Schrittgeschwindigkeit den Zeiten und auch der Kraft entspricht, die man für den ganzen Weg braucht. Denn weder darf man sich schon zu Anfang verausgaben, noch sich in einem zu langsamen Tempo bewegen, das müde macht. Der Schrittmacher regelt das, und alle profitieren davon. – Brauchen wir in unseren Gemeinden und Einrichtungen nicht auch solche Schrittmacher und Schrittmacherinnen, die gezielt darauf achten, dass die Balance von Ein- und Ausatmen, von Aufbrechen und Innehalten, von zügigem Voranschreiten und ruhigerem Schritt erhalten bleibt?! Es könnte ein neuer Dienst in der Gemeinde sein, über den wir nachdenken sollten.

Setzen wir, liebe Schwestern und Brüder, auf die Verheißung, die die Kirche jeden Morgen im „Benedictus“ der Laudes besingt: „Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes, und unsere Schritte zu lenken auf dem Weg des Friedens.“

Hier finden Sie weitere Informationen zum „Jahr des Aufatmens“.

Einen Beitrag über die Versammlung in Haus Ohrbeck lesen Sie im aktuellen Kirchenboten